Das Stanford-Prison-Experiment 2.0 – Warum Menschen unter Zwang bereitwillig mitspielen
- Ein Keller der Stanford-Universität. Zwei Gruppen: „Gefangene“ und „Wärter“. Keine echten Kriminellen, keine echten Beamten – nur Studenten in einem psychologischen Experiment. Sechs Tage später wird es abgebrochen, weil die Lage eskaliert. Psychische Zusammenbrüche, Machtmissbrauch, Gehorsam ohne Skrupel. Der Grund: Ein Rollenspiel war zur Realität geworden.
Fünfzig Jahre später wirkt das Experiment erschreckend aktuell. Nicht, weil sich jemand in einem Keller einsperren lässt. Sondern weil ganze Gesellschaften begonnen haben, bereitwillig Rollen zu spielen, die ihnen von außen zugewiesen wurden. Und weil die Dynamiken von damals sich heute digital, medial und sozial wiederholen – subtiler, aber nicht weniger zerstörerisch.
Der Psychologe Philip Zimbardo wollte damals herausfinden, wie schnell Menschen in autoritäre Rollen schlüpfen. Vierundzwanzig gesunde, durchschnittlich bis überdurchschnittlich gebildete junge Männer wurden per Münzwurf aufgeteilt: Hälfte Gefangene, Hälfte Wärter. Das Gefängnis war improvisiert – aber die psychologischen Auswirkungen waren real. Die „Wärter“ entwickelten binnen kürzester Zeit sadistische Verhaltensmuster. Sie demütigten, entwürdigten, kontrollierten – ohne Anweisung. Die „Gefangenen“ gehorchten, resignierten oder zerbrachen. Nur wenige Tage genügten, um aus Freiwilligen überzeugte Mitspieler eines Unterdrückungssystems zu machen. Zimbardos Erkenntnis war brisant: Nicht nur böse Menschen handeln böse. Auch ganz normale Menschen, wenn das System die Bühne dafür baut.
Du brauchst heute keine Uniform, keine Gefängnismauern, keine Gitter. Es genügt, dass Menschen beginnen, sich mit einer bestimmten Rolle zu identifizieren. Der Corona-Wächter im Supermarkt, der andere maßregelt. Der „Klimaschützer“, der Andersdenkende verurteilt. Der „Haltungsjournalist“, der keine Fragen mehr stellt, sondern urteilt. All das geschieht nicht aus Bosheit, sondern weil Menschen glauben, etwas Richtiges zu tun. Das ist das Perfide: Die Rollen, die heute vergeben werden, kommen mit moralischer Legitimation. Zimbardo selbst sagte später: „Gib den Menschen ein System, das Grausamkeit rechtfertigt – und du brauchst keine Monster mehr. Du brauchst nur noch Mitläufer.“
Warum spielen Menschen also mit? Weil Rollen Halt geben. In einer komplexen, chaotischen Welt wirkt eine klare Rolle wie ein sicherer Hafen. Ob „Solidarischer“, „Demokrat“, „Aktivist“ – wer sich in einer Gruppe verortet, muss nicht mehr denken, nur noch folgen. Weil die Mehrheit legitimiert. Je mehr Menschen mitspielen, desto richtiger wirkt die eigene Rolle. Soziale Spiegel sorgen dafür, dass man sich selbst nicht als Täter erkennt. Was alle tun, kann nicht falsch sein – oder? Und weil der Preis für Abweichung steigt. Wer aus der Rolle fällt, wird nicht neutral behandelt, sondern aktiv bekämpft. Wer nicht pariert, ist ein Problem. Das hält viele davon ab, Fragen zu stellen – aus Angst, selbst zum Ausgestoßenen zu werden.
Wenn Menschen beginnen, ihre Rolle über ihr eigenes Denken zu stellen, wird jede Gesellschaft gefährlich. Dann wird aus dem „Hilfsbereiten“ ein Blockwart, aus dem „Solidarischen“ ein Gesinnungswächter. Nicht weil er böse ist – sondern weil er glaubt, gut zu sein. Das ist der Moment, wo Manipulation zur Überzeugung wird. Und Überzeugung zur Waffe.
Zimbardo selbst warnte später davor, sein Experiment falsch zu deuten. Nicht jeder Mensch wird unter Macht automatisch zum Tyrannen. Aber jeder Mensch hat das Potenzial dazu – wenn das Umfeld es fördert. Das bedeutet: Es liegt an uns, wachsam zu bleiben. Uns selbst zu hinterfragen. Unsere Rollen nicht mit der Wahrheit zu verwechseln. Und den Mut zu haben, auch dann „Nein“ zu sagen, wenn die Mehrheit „Ja“ schreit.
Die gefährlichsten Gefängnisse sind die, die wir nicht sehen. Die subtilsten Wärter sind die, die sich selbst für Retter halten. Und das perfideste System ist das, das uns glauben lässt, wir seien frei – während wir nur Rollen spielen, die andere für uns entworfen haben. Wenn das Stanford-Prison-Experiment eines gezeigt hat, dann dies: Nicht Systeme machen Menschen böse. Menschen machen Systeme böse – wenn sie aufhören, sich selbst zu reflektieren.