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Der Sündenbock – Wie Systeme überleben, indem sie Schuld abschieben

Wenn ein System versagt, sucht es keine Lösung – es sucht einen Schuldigen. Denn nichts stabilisiert die Macht so effizient wie ein Feindbild. Nicht ein echter Feind. Sondern ein Sündenbock. Eine Projektionsfläche für alles, was falsch läuft. Eine Gruppe, ein Mensch, eine Meinung – aufgeladen mit aller Wut, allen Ängsten, aller Frustration der Gesellschaft. Und sobald der Sündenbock gefunden ist, atmet das System auf. Nicht, weil es heil ist – sondern weil es nicht mehr verantwortlich ist.

Der Mechanismus ist uralt. Schon in archaischen Kulturen wurden Ziegen symbolisch mit Schuld beladen und in die Wüste gejagt – daher der Begriff. Heute sind es keine Tiere mehr. Es sind Menschen. Minderheiten. Dissidenten. Abweichler. Fragesteller. Es sind die, die das Narrativ stören. Die das Gleichgewicht der Lüge gefährden. Und deshalb müssen sie gebrandmarkt werden – nicht für das, was sie tun, sondern für das, was sie darstellen.

Der Sündenbock ist nie zufällig. Er wird konstruiert. Schritt für Schritt. Erst mit Misstrauen, dann mit Verachtung, schließlich mit Hass. Er wird durch Sprache markiert – „gefährlich“, „unsolidarisch“, „radikal“. Durch Bilder – finster, abweichend, fremd. Durch Wiederholung – immer wieder, immer lauter, bis der Gedanke sich festsetzt: Wenn es ihn nicht gäbe, wäre alles besser.

Und sobald die Masse zustimmt, wird der Sündenbock geopfert. Öffentlich. Medial. Sozial. Und mit jedem Opfer wird das System reiner, klarer, gerechter – scheinbar. Doch in Wahrheit wird es nur leerer. Kälter. Lügnerischer. Denn die Ursache bleibt. Das Versagen bleibt. Die Krise bleibt. Nur die Schuld wurde verschoben – wie ein Gewicht, das man jemand anderem auflädt, um selbst aufrecht zu bleiben.

Du erkennst diesen Trick überall. In der Politik, wenn wirtschaftliche Fehlentscheidungen auf „ausländische Einflüsse“ geschoben werden. In der Gesellschaft, wenn man soziale Spannungen auf „rechte“ oder „linke Gruppen“ reduziert. In den Medien, wenn Kritik als „Hassrede“ verpackt wird. Immer dasselbe Muster: Die Ursache bleibt unangetastet – der Fokus liegt auf der Person, nicht auf dem Problem.

Und schlimmer: Der Sündenbock ist systemstabilisierend. Er verhindert echte Reform. Denn solange du jemanden zum Hassen hast, brauchst du nichts zu hinterfragen. Solange es einen „Schuldigen“ gibt, muss keiner Verantwortung übernehmen. Die Ablenkung wird zur Erleichterung – für Politik, für Medien, für Bürger, die sich nicht mit der Wahrheit konfrontieren wollen.

Aber wer schweigt, wenn andere zur Zielscheibe werden, steht morgen selbst im Fadenkreuz. Denn das System ist hungrig. Es braucht immer neue Schuldige, neue Sünden, neue Opfer. Heute sind es sie – morgen bist es du.

Wachsamkeit beginnt nicht beim Schutz der Freunde. Sie beginnt beim Schutz der Unbequemen. Der Missverstandenen. Der Stigmatisierten. Denn vielleicht liegt in ihren Fragen genau das, was du brauchst, um nicht selbst belogen zu werden.

Der Sündenbock rettet nie das Volk. Er rettet nur die Lüge.

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