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Die Angst zu sagen, was ist – Wenn Schweigen zur Bürgerpflicht wird

Von André Schmitt (Ex-KSK, Profiler und Mediator)

Man merkt es nicht sofort. Es ist kein offenes Verbot, keine scharfe Zensur, kein offizieller Erlass. Es ist etwas anderes. Etwas Leiseres. Subtileres. Gefährlicheres. Es ist das Gefühl, dass man vorsichtig sein muss mit dem, was man sagt. Dass man besser zweimal überlegt, bevor man eine Meinung äußert. Dass man sich innerlich fragt: „Kann man das noch sagen?“ Und genau in diesem Moment hat das Schweigen gewonnen.

Wir leben in einer Zeit, in der Worte schneller verurteilt werden als Taten. In der es nicht mehr darum geht, was gesagt wird – sondern von wem. Und ob es in das moralische Korsett einer gesellschaftlich definierten Wahrheit passt. Wer ausschert, wird markiert. Wer widerspricht, wird isoliert. Wer kritisch fragt, wird verdächtigt. Und so wird aus einem freien Diskurs eine geduckte Monokultur, in der Anpassung zur Tugend wird und Ehrlichkeit zum Risiko.

Viele Menschen spüren, dass etwas nicht stimmt. Sie sehen Entwicklungen, die ihnen Angst machen. Sie erleben Widersprüche zwischen politischer Botschaft und gelebter Realität. Sie fühlen sich belogen – von denen, die eigentlich neutral berichten, und regiert – von denen, die sich vor allem selbst verwalten. Doch sie sagen nichts. Nicht, weil sie nichts zu sagen hätten. Sondern weil sie wissen: Wer spricht, wird gehört. Und wer gehört wird, wird bewertet. Und wer bewertet wird, verliert.

Die Angst, etwas Falsches zu sagen, ist längst zur neuen Zensur geworden. Keine staatliche, sondern eine soziale. Kein Maulkorb aus Metall, sondern einer aus Blicken, Unterstellungen und moralischen Urteilen. Sie kommt in Gesprächen, die verstummen. In Freundschaften, die zerbrechen. In Karrieren, die enden, bevor sie beginnen. Wer heute offen über Migration, innere Sicherheit, Bildung, Energie oder soziale Gerechtigkeit spricht – ohne sich dem erwartbaren Narrativ zu unterwerfen – wird schnell in eine Ecke gestellt, in der man nicht stehen will.

Doch das eigentliche Problem ist nicht die Cancel Culture oder die mediale Verengung. Das eigentliche Problem ist die Selbstzensur. Denn sie ist das effektivste Werkzeug. Man braucht keinen Druck von außen mehr – wenn der Druck von innen wirkt. Wenn Menschen sich selbst verbieten, das auszusprechen, was sie denken. Wenn die Sorge um Ansehen, Arbeitsplatz oder Zugehörigkeit stärker wird als der Drang nach Wahrheit.

Eine Demokratie lebt vom offenen Wort. Vom Widerspruch. Vom Streit. Nicht vom Konsens um jeden Preis. Nicht vom Einheitsbrei der Formulierungen. Sondern vom Ringen um Realität. Wenn dieses Ringen verloren geht, stirbt die Freiheit – nicht durch Gewalt, sondern durch Feigheit. Durch das Schweigen der Vielen, das lauter ist als das Schreien der Wenigen.

Die gefährlichste Gesellschaft ist nicht die radikale. Es ist die stille.
Die, in der alle nicken – und keiner mehr glaubt.
Die, in der die Wahrheit nicht bekämpft, sondern ignoriert wird.
Die, in der man sagen darf, was man will – aber besser nicht sollte.

Wenn das Schweigen zur Bürgerpflicht wird, ist das Reden der letzte Akt des Mutes.
Und manchmal reicht ein einziger Satz, um die Angst zu brechen.

„Ich sehe das anders.“

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