Im Land der Baustellen – Warum nichts mehr fertig wird
Von André Schmitt (Ex-KSK, Profiler und Mediator)
Manchmal ist ein Zustand selbst zur Sprache geworden. Deutschland ist längst nicht mehr „das Land der Dichter und Denker“ – es ist das Land der Baustellen. Und das nicht nur im wörtlichen Sinn. Sondern im übertragenen, im politischen, im gesellschaftlichen. Überall wird angefangen, aber kaum etwas zu Ende gebracht. Gesetze werden verkündet, bevor sie durchdacht sind. Maßnahmen werden gestartet, bevor jemand weiß, wer sie umsetzen soll. Die Schlagworte wechseln schneller als die Realität hinterherkommt. Alles scheint im Umbau – aber nie im Abschluss.
Der Bürger lebt in einem Dauerzustand des „Work in Progress“. Die Steuerreform? Kommt bald. Der Digitalpakt? Ist in Arbeit. Der Bürokratieabbau? Wird geprüft. Die Energiewende? Auf dem Papier. Die Migrationsfrage? In Abstimmung. Und während die Projekte sich häufen, fehlt an allen Ecken das Fundament. Es gibt keinen roten Faden mehr. Keine Vision, die über Legislaturperioden hinausreicht. Kein Verantwortlicher, der für das Ergebnis gerade steht. Stattdessen: Arbeitskreise, Pilotsysteme, Anhörungen, Prüfverfahren. Ein Land im Verwaltungs-Loop.
Was einst für Gründlichkeit stand, ist heute Symbol für Stillstand. Die Verwaltung bremst, was eigentlich beschleunigt werden müsste. Die Angst vor Shitstorms ersetzt klare Entscheidungen. Die Sorge vor Klagewellen lähmt jede Durchsetzung. Und jeder Fehler wird politisch ausgeschlachtet, sodass niemand mehr wagt, entschlossen zu handeln. Die Folge: Es wird lieber angekündigt als umgesetzt. Lieber diskutiert als entschieden. Lieber verschoben als verantwortet.
Gleichzeitig steigen die Erwartungen der Bürger. Denn die Probleme hören nicht auf, nur weil die Lösungsversuche stocken. Im Gegenteil: Sie wachsen. Der Frust wächst mit. Und irgendwann kehrt sich dieser Frust gegen das System selbst. Nicht, weil Menschen plötzlich radikal sind – sondern weil sie zu lange vertröstet wurden. Wer einem chronischen Patienten immer wieder sagt, dass bald alles besser wird, aber nichts verändert, muss sich nicht wundern, wenn er sich irgendwann nach einem anderen Arzt umsieht.
Baustellen sind notwendig, wenn etwas erneuert wird. Doch in Deutschland sind sie zur Lebensform geworden. Schulen, Brücken, Verwaltungsprozesse, Energiefragen, Justiz, Bundeswehr, Digitalisierung – alles wird „überarbeitet“. Und alles gleichzeitig. Doch wer alles gleichzeitig anfasst, bekommt nichts zu greifen. Es fehlt nicht an Ideen. Es fehlt an Struktur. An Mut. An Ergebnisorientierung. Und an einem System, das Verantwortung nicht wegverhandelt, sondern fordert.
Was dieses Land braucht, ist kein neues Leuchtturmprojekt. Es braucht Fertigstellungen. Sichtbare Erfolge. Eine Politik, die nicht nur Probleme beschreibt, sondern sie löst – Schritt für Schritt, Ziel für Ziel. Nicht perfekt, aber nachvollziehbar. Nicht symbolisch, sondern konkret. Denn Menschen glauben nicht mehr an Versprechen. Sie glauben an Ergebnisse. Und davon gibt es zu wenige.
Im Land der Baustellen verliert sich nicht nur der Fortschritt. Es verliert sich auch der Glaube an das Können. An das Fertigmachen. An das Vollenden. Doch ohne dieses Gefühl bleibt nur Frustration.
Und irgendwann steht man nicht mehr im Stau vor einer Baustelle. Man steht im Stau vor dem System selbst.