Teil 1: Was ist kritische Infrastruktur (KRITIS) – und warum ist sie so verwundbar?
Autor: André Schmitt (ehem. KSK, Experte für Sabotageabwehr und irreguläre Kriegsführung, heute Berater für Behörden und Betreiber kritischer Infrastrukturen)
Es ist Montag. 06:07 Uhr.
Du wachst auf. Der Radiowecker bleibt still. Dein Handy lädt nicht. Draußen ist es ungewohnt ruhig. Kein Brummen der Straßenbahn, kein Rattern vom Bäckerwagen. Der Kaffeevollautomat gibt keinen Mucks von sich. Stromausfall?
Du wirfst einen Blick auf dein Smartphone – kein Empfang, kein Netz, kein Internet. Dein Bauch zieht sich zusammen. Du versuchst die Nachrichten zu checken – nichts. Keine Info. Kein Kontakt. Kein gar nichts.
Du gehst vor die Tür. Auf der Straße stehen Autos mit offenen Türen. Menschen schauen auf ihre Handys, reden aufgeregt. Der Tankstellenbetreiber winkt wild ab – kein Strom, kein Benzin. Im Supermarkt um die Ecke blockieren Menschen die Kasse. Nur Barzahlung, doch der Automat gibt nichts mehr aus. In den Apotheken wird das Licht per Notlampe ersetzt. Die ersten Regale sind leer. Die Polizei fährt langsam Streife – ohne Blaulicht, nur im Standgas.
Ein flüchtiger Satz geht von Mensch zu Mensch:
„Es ist nicht nur unsere Stadt. Es ist ganz Deutschland. Und diesmal ist es kein Sturm.“
Willkommen im Kollaps der kritischen Infrastruktur (KRITIS)
Was sich wie der Beginn eines apokalyptischen Films liest, ist kein Hirngespinst – sondern ein realistisches Szenario. Es reicht ein einziger Angriffspunkt, ein gezielter Ausfall, eine Schwachstelle im System – und das, was unsere Zivilisation zusammenhält, fällt in sich zusammen. Innerhalb von Stunden. Nicht Tagen.
Ich weiß das, weil ich auf der anderen Seite stand.
Als ehemaliger Angehöriger einer Spezialeinheit war ich jahrelang darauf spezialisiert, kritische Infrastrukturen zu analysieren, gezielt zu stören oder auszuschalten – um militärische Ziele vorzubereiten oder Gegner zu destabilisieren. Heute nutze ich dieses Wissen für die zivile Seite: Ich berate Behörden, Stadtwerke, Energieversorger, Krankenhäuser und Telekommunikationsunternehmen dabei, ihre Systeme gegen genau solche Szenarien zu wappnen.
Und ich sage es Ihnen so klar wie möglich:
Unsere Verwundbarkeit ist real. Der Gegner kennt sie. Die meisten Bürger nicht.
Was wir „kritische Infrastruktur“ nennen – ist in Wahrheit unser Lebensnerv
Der Begriff „kritische Infrastruktur“ klingt sperrig. Technokratisch. Bürokratisch. Fast wie ein Verwaltungsakt. Doch was sich dahinter verbirgt, ist nichts Geringeres als die Gesamtheit aller Systeme, die unser Leben ermöglichen.
Kritische Infrastrukturen (KRITIS) sind laut Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) all jene Einrichtungen, Anlagen, Netze, Dienste und Prozesse, „die für das Funktionieren des Gemeinwesens unverzichtbar sind und bei deren Ausfall erhebliche Versorgungsengpässe oder Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit eintreten würden.“
Das klingt noch immer abstrakt. Konkret heißt das:
Wenn KRITIS ausfällt, funktioniert gar nichts mehr. Keine Versorgung. Kein Schutz. Keine Orientierung. Kein Staat.
Diese Sektoren zählen zur kritischen Infrastruktur:
- Energie: Stromerzeugung und -verteilung, Gasversorgung, Mineralölversorgung
- Wasser: Trinkwasserversorgung, Abwasserentsorgung
- Ernährung: Produktion, Verarbeitung, Logistik und Handel mit Lebensmitteln
- Informationstechnik & Telekommunikation (ITK): Internet, Mobilfunk, Rechenzentren
- Gesundheit: Krankenhäuser, Rettungsdienste, Arzneimittelversorgung
- Finanzen: Banken, Zahlungsverkehr, Börsen, Versicherungen
- Transport & Verkehr: Logistik, Straßen, Schienen, Luft- und Seewege
- Staat & Verwaltung: Polizei, Justiz, Katastrophenschutz, Verwaltungssysteme
- Medien & Kultur: Presse, Rundfunk, digitale Plattformen zur Meinungsbildung
Diese Sektoren sind keine Inseln. Sie hängen voneinander ab. Wenn der Strom ausfällt, versagt binnen Minuten das Telekommunikationssystem. In wenigen Stunden steht die Wasserversorgung still. Kühlketten brechen. Logistik stoppt. Lebensmittelversorgung kollabiert. Ohne Kommunikation keine Koordination. Ohne Koordination kein Staat.
Vom Kollaps einzelner Sektoren zum Systemversagen
Viele Menschen glauben: „Wenn der Strom ausfällt, nehme ich eine Taschenlampe.“
Das ist naiv.
Ein Stromausfall bedeutet:
- keine Supermarktkassen
- keine Tankstellen
- keine Bankautomaten
- kein Mobilfunk
- keine Züge, keine U-Bahnen
- keine Heizung, kein Licht, kein Aufzug
- keine Medikamente
- keine Polizei per Notruf erreichbar
- kein Behörden- oder Gesundheitsbetrieb
- keine Information außer Gerüchte
Innerhalb von 6 bis 24 Stunden wird aus einer technischen Störung ein gesellschaftlicher Kontrollverlust. Und innerhalb von 72 Stunden beginnt der Mensch, seine zivilisierte Maske zu verlieren. Das zeigen alle historischen Katastrophen – von New Orleans bis Venezuela.
Warum ist unsere KRITIS so verwundbar?
1. Zentrale Steuerung & globale Abhängigkeit:
Was früher dezentral lief, ist heute zentralisiert. Rechenzentren bündeln Informationsflüsse. Energie wird über Ländergrenzen hinweg verteilt. Medikamente kommen aus Asien. Die Effizienz ist hoch – die Resilienz niedrig.
2. Digitalisierung ohne Schutz:
SCADA-Systeme, Netzleitsysteme, Fernwartung – all das läuft digital. Doch viele dieser Systeme sind alt, schlecht gewartet oder offen angreifbar. Cyberangriffe auf diese Systeme haben sich vervielfacht. Die Industrie weiß es – doch die Umsetzung hinkt.
3. Redundanz wurde eingespart:
Pufferlager, Notfallreserven, alternative Kanäle – in den 90ern Pflicht, heute oft gestrichen. Der Markt belohnt Effizienz, nicht Sicherheit. Was nicht sofort Profit bringt, fällt weg.
4. Personalmangel & Wissenserosion:
Viele Anlagen hängen von wenigen Schlüsselpersonen ab. Die, die das alte System verstehen, gehen in Rente. Die, die nachrücken, kennen nur das digitale Normal. Wenn der Ausfall kommt, fehlt das Wissen für Handbetrieb.
5. Hybride Bedrohung durch äußere Akteure:
Nicht jeder Feind schickt Panzer. Russland, China, private Hackergruppen oder ideologische Netzwerke setzen längst auf asymmetrische Kriegsführung: Stromnetze, Wasserwerke, Transportknoten, Kommunikationswege – genau dort wird angesetzt, wo der Bürger am empfindlichsten ist. Ziel ist nicht Zerstörung, sondern Destabilisierung.
Spanien war kein Ausrutscher – es war ein Vorgeschmack
Im Frühjahr 2025 kam es in mehreren Regionen Spaniens zu kompletten Stromausfällen über zwei Tage. Die offizielle Version: technische Überlastung. Doch inoffiziell berichten Fachkreise von einem möglichen koordinierten Cyberangriff auf die Energieverteilung, in Kombination mit gleichzeitigen Angriffen auf Telekommunikationsschnittstellen.
Die Folgen:
- kein Strom, kein Netz, kein Wasser
- Apotheken geschlossen, Medikamentenengpässe
- Supermärkte geplündert, Gewalt in Randgebieten
- falsche Informationen über soziale Netzwerke
- Polizei überlastet, Notrufe nur lokal erreichbar
- Bevölkerung in Schock, später in Panik
Das war kein vollständiger Blackout. Das war eine Generalprobe.
Fazit Teil 1:
Kritische Infrastruktur (KRITIS) ist nicht einfach eine staatliche Struktur – sie ist das unsichtbare Rückgrat unserer gesamten Gesellschaft. Sie ermöglicht nicht nur das Leben, das wir heute führen – sie schützt es auch. Doch sie ist verwundbar. Sie wurde ausgehöhlt – durch Effizienzdenken, globale Abhängigkeit, Digitalgläubigkeit und politische Kurzsichtigkeit.
Wer KRITIS trifft, trifft das Herz. Und jeder Angreifer weiß das.
Im nächsten Teil dieser Blogreihe zeige ich auf, wie ein Kollaps entsteht, welche Eintrittswege realistisch sind, und warum unsere größte Gefahr nicht „der große Knall“, sondern die schleichende Zersetzung ist.