Teil 2: Wie der Kollaps beginnt – Angriffsvektoren, Szenarien und Dominoeffekte
Autor: André Schmitt (Ex-KSK, Experte für Sabotageabwehr & irreguläre Kriegsführung, heute Berater für Betreiber kritischer Infrastrukturen und staatliche Stellen)
Moderne Konflikte beginnen selten mit einer offiziellen Kriegserklärung. Sie kommen nicht mit Panzern, sondern mit Latenz. Sie schleichen sich über Glasfaserkabel, über Netzprotokolle, über scheinbar harmlose Softwareupdates in unsere Systeme. Der neue Krieg findet im Unsichtbaren statt – in der Leitzentrale, im Rechenzentrum, im Pumpwerk, im Schaltkasten. Wer unsere kritische Infrastruktur trifft, muss nicht schießen, nicht marschieren, nicht einmarschieren. Er bringt das System zum Stillstand und lässt die Gesellschaft gegen sich selbst arbeiten. Der Angriff auf unsere kritischen Infrastrukturen ist nicht mehr Theorie oder Planspiel. Er ist Realität – und er kommt schneller, härter und unberechenbarer, als es sich viele in Politik, Wirtschaft oder Bevölkerung vorstellen können.
Im Frühjahr 2025 zeigten sich die Schwächen unseres Systems auf dramatische Weise. In mehreren Regionen Spaniens brach innerhalb weniger Stunden das Stromnetz zusammen. Die offizielle Erklärung lautete „technischer Fehler“, doch Beobachter aus dem Bereich der IT-Sicherheit, staatliche Stellen und unabhängige Analysten erkennen hinter den Kulissen ein Muster: die Handschrift eines gezielten, zeitlich exakt getakteten Angriffs auf mehrere Schnittstellen zwischen Energie, Kommunikation und Verkehr. Noch während die Lichter ausgingen, brach auch das Mobilfunknetz ein. Serverzentren fielen aus, Transportlogistik kam zum Erliegen. In nur neun Stunden kam es in Ballungsräumen zu Plünderungen, Übergriffen, Gewaltausbrüchen – nicht weil die Menschen böse sind, sondern weil das System, auf das sie sich verlassen, in sich zusammenbrach. Und mit dem System fiel das Vertrauen.
Der entscheidende Punkt dabei ist nicht der Stromausfall selbst, sondern die Gleichzeitigkeit von Desinformation, Gerüchten und psychologischer Unsicherheit. Wenn der Bürger nicht mehr weiß, ob es sich um eine Störung, einen Terroranschlag oder einen Krieg handelt, bricht seine emotionale Stabilität zuerst. In Madrid, Sevilla und Teilen Valencias reichten wenige Stunden, bis sich Menschen zusammentaten – nicht, um Hilfe zu leisten, sondern um sich zu nehmen, was sie für ihren Vorteil hielten. Wenn das Licht ausgeht, verliert die Zivilisation ihre Deckung.
Aus militärisch-strategischer Sicht ist ein solcher Vorgang ein Musterbeispiel für hybride Kriegsführung. Der Feind greift nicht die Armee an, sondern die Stromversorgung. Nicht das Parlament, sondern das Vertrauen der Bevölkerung. Ein gezielter Cyberangriff auf ein Netzleitsystem kann innerhalb weniger Sekunden die Überlastung eines Stromabschnitts erzeugen. Wird dies kombiniert mit parallelen Angriffen auf Mobilfunk-Schnittstellen und Server, die öffentliche Informationskanäle steuern, entsteht nicht nur Dunkelheit, sondern ein Vakuum. Und Vakuen werden gefüllt – mit Angst, Spekulation, Gewalt.
Je nachdem, wo man sich befindet, verläuft dieser Zusammenbruch in unterschiedlichem Tempo. In einem wohlhabenden, strukturierten Vorort mit intakter Nachbarschaft und niedriger Bevölkerungsdichte kann ein Stromausfall 24 Stunden lang Unsicherheit erzeugen, bevor sich eine Art Selbstorganisation etabliert. In einem sozialen Brennpunkt mit prekären Lebensverhältnissen, ethnischen Spannungen oder hoher Arbeitslosigkeit reichen hingegen drei bis sechs Stunden, bevor die Gewalt die Straße übernimmt. Innerhalb von neun Stunden ist dort die staatliche Ordnung nicht nur gestört – sie ist entmachtet. Wer jetzt Hilfe braucht, bekommt sie nicht. Wer jetzt Schutz braucht, muss selbst handeln. Wer jetzt zögert, wird zum Ziel.
Der Dominoeffekt ist in solchen Lagen brutal und logisch zugleich. Fällt der Strom aus, folgt das Telekommunikationsnetz. Ohne Netz keine Koordination. Ohne Koordination keine Versorgung. Ohne Versorgung keine Sicherheit. Innerhalb weniger Stunden bricht die Wasserversorgung zusammen, weil die Pumpwerke nicht mehr arbeiten. Apotheken bleiben geschlossen, Lebensmittel verderben. Banken und Kassensysteme streiken, weil weder Strom noch Datenverbindungen funktionieren. Digitale Zahlung ist tot, Bargeld unbrauchbar, weil auch die Automaten offline sind. Der Mensch erkennt seine Ohnmacht in Echtzeit – und reagiert instinktiv. Was eben noch Alltag war, wird zur Existenzfrage.
Ein Angreifer, der so etwas auslöst, muss nicht mehr eingreifen. Er beobachtet. Während die Bevölkerung mit sich selbst kämpft, ihre Regierung in Zweifel zieht, sich gegenseitig beschuldigt oder den Staat als unfähig erlebt, kann der Gegner geopolitisch, wirtschaftlich oder strategisch Raum gewinnen. Es ist ein Kampf ohne Schlachtfeld, aber mit zerstörerischer Wirkung. Wer kritische Infrastrukturen destabilisiert, verändert nicht nur die äußeren Abläufe, sondern greift direkt in das Selbstverständnis eines Landes ein.
Das Ziel ist nicht die totale Zerstörung. Es ist die Zermürbung. Die Entkopplung von Ordnung und Vertrauen. Der Aufbau einer Situation, in der die Bevölkerung selbst den Ruf nach harten Maßnahmen, nach autoritärer Führung oder radikalen Lösungen stellt – aus Angst, nicht aus Überzeugung. Und genau diese Angst ist das schärfste Schwert moderner Kriegsführung.
Wer sich heute noch auf die alte Regel beruft, dass die Ordnung in den ersten 72 Stunden einer Krise stabil bleibt, irrt gewaltig. In Wirklichkeit beginnt der Zerfall bereits nach wenigen Stunden – je nachdem, wie anfällig der Ort, wie überreizt die Gesellschaft und wie gut vorbereitet die Feinde sind. Die bittere Wahrheit ist: Das Vertrauen in Systeme ist oft nur so stabil wie der Akku eines Handys. Und wenn das Netz tot ist, stirbt nicht nur die Kommunikation, sondern auch die Hoffnung.
In Teil 3 dieser Reihe zeige ich auf, wie Staaten, Unternehmen und Bürger sich gegen genau diese Art von Angriffen schützen können – nicht durch Abschottung, sondern durch kluge Vorbereitung, Redundanz, psychologische Resilienz und operative Wachsamkeit. Denn der Schlüssel zur Verteidigung liegt nicht in der Reaktion, sondern in der Voraussicht.