Teil 3: Verteidigung der Lebensadern – Was jetzt getan werden muss
Autor: André Schmitt (Ex-KSK, Experte für Sabotageabwehr & irreguläre Kriegsführung, heute Berater für Betreiber kritischer Infrastrukturen und staatliche Stellen)
Die Verwundbarkeit unserer kritischen Infrastruktur ist kein theoretisches Planspiel mehr. Sie ist Realität. Teil 1 dieser Reihe hat die Bedeutung von KRITIS erklärt – als Herz und Nervensystem unserer modernen Gesellschaft. Teil 2 hat gezeigt, wie schnell ein Angriff auf diese Strukturen zum gesellschaftlichen Kollaps führen kann – schneller, als die meisten denken. Jetzt, in Teil 3, geht es um das Wesentliche: Was müssen wir tun, um nicht wehrlos zu sein? Was müssen Staat, Unternehmen und Bürger begreifen, um der Realität von Störungen, Angriffen und Ausfällen nicht ausgeliefert zu sein?
Die unangenehme Wahrheit zuerst: Es gibt keinen absoluten Schutz. Kein System dieser Welt – sei es digital oder physisch – ist unangreifbar. Doch es gibt etwas, das fast genauso wirksam ist wie Unverwundbarkeit: Resilienz. Die Fähigkeit, mit einem Schlag umzugehen. Wieder aufzustehen. Schnell, dezentral, intelligent zu reagieren – nicht mit Panik, sondern mit Klarheit. Und genau das fehlt derzeit an vielen Stellen.
Was heute als „Krisenvorsorge“ durch Behörden oder Unternehmen kommuniziert wird, ist oft nicht mehr als das Verteilen von Flyern oder das Abhaken gesetzlicher Pflichten. Echte Resilienz bedeutet etwas anderes. Sie beginnt mit einem unangenehmen Blick in den Spiegel. Wer sich nicht eingesteht, dass das System auf Kante läuft, wird niemals in der Lage sein, es zu verteidigen. Wir brauchen nicht nur neue Server, neue Zäune oder neue Stromleitungen – wir brauchen ein neues Denken. Ein Denken in Redundanzen, in Krisenmodellen, in Plänen, die scheitern dürfen und trotzdem weiterlaufen. Ein Denken, das nicht von der Annahme ausgeht, alles werde schon gutgehen, sondern das akzeptiert, dass alles auch schiefgehen kann – und trotzdem unter Kontrolle bleiben muss.
Ein erster Schritt ist die echte Dezentralisierung. Stromversorgung, Datenverarbeitung, Logistiksysteme – all das muss regional abgesichert und im Notfall lokal steuerbar sein. Abhängigkeiten von überregionalen Netzen, Cloud-Strukturen oder zentralen Serverfarmen sind brandgefährlich. Der Ausfall eines Knotens darf nicht den ganzen Baum fällen. Resiliente Systeme funktionieren wie Wälder, nicht wie Plantagen. Sie überleben auch dann, wenn einzelne Bäume brennen. Das bedeutet: Batteriepuffer, lokale Inselnetze, Notfallkommunikation ohne Internet, manuelle Notfallpläne und klare, analoge Protokolle müssen Standard sein – nicht Ausnahme.
Ein zweiter Punkt ist die Ausbildung und das Personal. Viele Mitarbeiter in der Energie-, IT- oder Logistikbranche wissen nicht, wie sie im Falle eines Ausfalls ohne digitale Systeme weiterarbeiten sollen. Das liegt nicht an mangelnder Intelligenz, sondern an der völligen Abhängigkeit von Tools, die sie nie hinterfragen mussten. Doch wenn der Bildschirm schwarz bleibt, zählt das Wissen im Kopf. Es braucht Trainings, Notfallübungen, reale Planspiele – nicht nur auf Ministeriumsebene, sondern auf Betriebsebene. Wie funktioniert eine Umstellung auf Handbetrieb? Wie kommunizieren wir ohne Mobilfunk? Wer ist für welche Entscheidung autorisiert, wenn die Hierarchie zusammenbricht?
Drittens braucht es eine politische Kultur des Ernstnehmens. Die Behörden, die zuständig sind, wissen um die Risiken. Doch zwischen Wissen und Handeln klafft eine gefährliche Lücke. Wenn Empfehlungen zur Vorsorge als „Panikmache“ abgetan werden, wenn Bevölkerungsschutz im Schatten der Haushaltsdebatten verschwindet, wenn Unternehmen aus Kostengründen ihre IT-Sicherheit auf Mindestmaß trimmen, dann ist nicht der Angreifer unser größtes Problem – sondern unser eigener Hochmut.
Und schließlich – der vielleicht wichtigste Aspekt dieser neuen Verteidigung – ist der Bürger selbst. Jeder Mensch in diesem Land ist heute Teil eines Systems, das ohne ihn nicht funktioniert – aber auch mit ihm zusammenbrechen kann, wenn er nicht vorbereitet ist. Der Staat kann keine persönliche Vorsorge ersetzen. Kein THW dieser Welt kann alle Familien gleichzeitig versorgen, keine Bundespolizei kann überall gleichzeitig sein. Der Bürger von heute muss ein mündiger Akteur sein. Das heißt nicht Hamstern oder Angst – das heißt: Eigenverantwortung.
Wer heute keine Wasservorräte, keine Taschenlampe, kein Kurbelradio und keinen Vorratsplan hat, der wird im Ernstfall nicht nur sich selbst gefährden, sondern auch andere. Wer sich in der Krise nicht selbst organisieren kann, wird Teil der Masse – der Masse, die Panik hat, die Druck ausübt, die das System zusätzlich belastet. Der Unterschied zwischen Opfer und Überlebendem beginnt lange vor der Krise. Er beginnt in der Haltung.
Resilienz ist kein technisches Konzept. Sie ist eine kulturelle Entscheidung. Der Entschluss, nicht abhängig sein zu wollen. Nicht blind zu vertrauen. Nicht zu warten, bis es zu spät ist. Wir brauchen eine neue Kultur der Verantwortung – auf allen Ebenen: in der Politik, in der Wirtschaft, in den Betrieben, aber auch in der Familie, in der Nachbarschaft, im Alltag.
Denn wenn der Tag kommt – und er wird kommen – an dem ein Teil unserer kritischen Infrastruktur ausfällt, dann wird es nicht darauf ankommen, wer Schuld hat. Sondern wer bereit war. Wer weiterdenken konnte. Und wer dem Chaos mit Haltung begegnet.