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Verlorene Mitte – Wie der öffentlich-rechtliche Rundfunk sein Neutralitätsgebot verspielt

Von André Schmitt (Ex-KSK, Profiler und Mediator)

Es sind nicht die Schlagzeilen, die den Vertrauensverlust auslösen. Es sind die Muster. Wer sich die Zeit nimmt, hinzusehen, entdeckt eine stille Verschiebung, die wenig mit Journalismus zu tun hat – und viel mit Deutungshoheit. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk (ÖRR), laut Verfassung verpflichtet zu Ausgewogenheit, Pluralität und Meinungsvielfalt, gerät zunehmend unter Verdacht: Nicht, weil er offen manipuliert, sondern weil er systematisch ausblendet. Und damit genau jene Stimme unterdrückt, die er am nötigsten schützen sollte – die des Wählers.

Ein Blick auf die aktuelle Auswertung der 39 Sendungen von Maybrit Illner, Markus Lanz, Hart aber Fair, Maischberger und Miosga seit der Bundestagswahl am 23. Februar 2025 legt offen, was viele bereits ahnen: Der Anteil an eingeladenen Parteipolitikern steht in auffälligem Missverhältnis zum realen Bundestagsergebnis. Die AfD, aktuell mit 20,8 % zweitstärkste Kraft im Parlament, wurde in 39 Sendungen exakt einmal eingeladen – ein Anteil von 1,3 %. Die rechnerische Differenz: -19,5 Prozentpunkte. Keine kleine Abweichung. Kein Ausrutscher. Sondern eine systematische Nichtbeachtung.

Auf der anderen Seite stehen CDU/CSU, SPD, Grüne, Linke und FDP – zum Teil mit massiven Überrepräsentationen. Die CDU/CSU kam auf 36 % der Sendezeit, obwohl sie im Bundestag „nur“ 28,5 % der Stimmen hält. Die SPD wurde mit 24 % Talkshow-Anteil (bei 16,4 % Stimmen) ebenfalls deutlich bevorteilt. Die Grünen erhielten 17,3 % der Sendezeit bei 11,6 % Stimmen. Die FDP – wohlgemerkt nicht einmal im Bundestag vertreten – wurde siebenmal eingeladen. Das ergibt eine mediale Präsenz, die im Verhältnis zur parlamentarischen Relevanz weder logisch noch demokratisch erklärbar ist.

Natürlich steht es jedem Sender frei, journalistische Schwerpunkte zu setzen. Doch der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist kein Privatsender, sondern durch Zwangsgebühren finanziertes Staatswesen mit Verfassungsauftrag. Er ist zur Neutralität verpflichtet. Er muss alle relevanten politischen Strömungen angemessen abbilden – nicht nur die, die in die redaktionelle Komfortzone passen. Und genau da liegt das Problem: Es wird nicht mehr informiert, es wird vorgefiltert.

Was bedeutet das für den Bürger? Es bedeutet, dass er nur einen Ausschnitt der politischen Wirklichkeit zu sehen bekommt. Er erfährt nicht mehr, was ist, sondern nur noch, was gewünscht ist. Die Meinungsbildung verkommt zur Meinungslenkung. Das ist kein Ausrutscher mehr. Das ist ein Demokratiedefizit.

Besonders brisant: Die öffentlich-rechtlichen Talkshows prägen maßgeblich das politische Klima. Sie geben den Ton an. Wer dort auftritt, wird gehört, zitiert, wahrgenommen. Wer dort nicht stattfindet, verschwindet im Schatten. Wenn fast 21 % der Wählermeinung systematisch aus diesem Format ausgeschlossen werden, stellt sich die Frage: Wer entscheidet hier eigentlich, welche Stimme zählt?

Die oft vorgebrachte Rechtfertigung, man wolle „keine Plattform für Extreme bieten“, ist eine gefährliche Argumentationslinie. Denn was als extrem gilt, liegt im Auge des Betrachters – oder eben des Redakteurs. Wenn 1 von 5 Bürgern eine Partei wählt, die dann medial fast vollständig ignoriert wird, entsteht ein toxischer Kreislauf aus Entfremdung, Frustration und Radikalisierung. Wer Menschen die Stimme nimmt, darf sich nicht wundern, wenn sie lauter werden.

Das Neutralitätsgebot ist kein ästhetischer Anspruch. Es ist das Rückgrat einer freien Gesellschaft. Es schützt nicht nur Minderheiten, sondern vor allem die Mehrheit – vor Manipulation, Einseitigkeit und ideologischer Schieflage. Wenn der öffentlich-rechtliche Rundfunk dieses Gebot aufgibt, verliert er seine Legitimation. Dann wird aus der vierten Gewalt ein Erziehungsapparat. Und aus Journalismus wird Gesinnungspflege.

Die Grafik oben ist keine Statistik. Sie ist ein Alarmsignal.
Denn wer die Repräsentation in den Medien verschiebt, verschiebt auf Dauer das Denken. Und wer das Denken verschiebt, verändert die Demokratie – ohne einen einzigen Gesetzesbruch.

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